Die eigentliche Geschichte der heutigen Japaner beginnt Ende des vorletzten Jahrtausends, als Einwanderer aus dem asiatischen Festland auf die südlichste der vier Großinseln der japanischen Inselkette übersiedeln (Kyushu). Sie, die man später die Jomon-Kultur nennen wird, beherrschen die Kunst der Bronzebearbeitung und sind den Ureinwohnern der Inseln, den Ainu dank ihrer Metallwaffen weit überlegen, so dass diesen nur noch die Flucht nach Norden bleibt.

judo

Zu dieser Zeit existiert als waffenloser Kampf nur eine eher einfache Form des Ringens, deren Ausübung sich wohl mehr auf das reine Kräftemessen beschränkte. Die geringe Bedeutung des Ringens    wurde noch dadurch unterstützt, dass man innerhalb der nächsten Jahrhunderte (die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung) allmählich die Kunst der Eisenherstellung erlernte und die Metallbearbeitungstechniken verfeinerte. So wurde es möglich hochwertige Waffen und Rüstungen herzustellen, denen mit bloßen Händen kaum etwas anzuhaben war. Schlag- und Tritttechniken chinesischer Einwanderer beeinflussten schließlich die alten Ringtechniken. Es entstand ein Kampfstil namens Kumi-Uchi, der die bereits vorhandenen Techniken des bewaffneten Kampfes ergänzte.

Die erste systematische Unterweisung von Bujutsu, also den Kampfkünsten (damals hauptsächlich Bogenschießen und Schwertfechten), erfolgte wahrscheinlich Ende des 8. Jahrhunderts, als der japanische Kaiser, auf der Flucht vor der immer mächtiger werdenden Konkurrenz der Tempelpriester seinen Hof nach Kyoto verlegte und dort eine neue Gesellschaftskaste gründete, die einzig und allein zum Schutz des Kaisers sowie seiner Hofadeligen dienen sollte. Diese aus den Landadeligen rekrutierten Truppen erzielten bald auch im Kampf gegen die Ureinwohner der japanischen Inseln große Erfolge. Schließlich wurden ihre Titel erblich. Die Macht dieses neuen ,,Kriegeradels" wuchs mit den Jahren so stark an, dass sie im zwölften Jahrhundert den Hofadel, der den Kaiser mittlerweile nahezu entmachtet hatten, verdrängten und seine Stellung einnahm. Von nun an regierte der Shogun (Großfeldherr) - das Oberhaupt der Herrschenden Kriegerfamilie. Daraufhin folgten Jahrhunderte voller Kriege und Fehden, in dessen Verlauf die verschiedenen Kriegerclans um die Machtverteilung auf den japanischen Inseln kämpften. Diese Feindlichkeiten arteten Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts im Onin-Krieg zu einem Massengemetzel mit rund 200.000 Samurai rund um die Hauptstadt aus. Lange Jahre des absoluten politischen Chaos und gegenseitigen Verrates folgten. Bis es 1600 einem vom Kaiser unterstützten Samuraiführer gelang, die verfeindeten Großgrundbesitzter/Fürsten zu einigen.

Mit ihm und seinen Nachfolgern zog eine neue Ära des (relativen) Friedens in Japan ein. Neue Gesetzte und einen genauere Gesellschaftsordnung erhoben die Samurai zur obersten Gesellschaftsklasse. Der Kaiser existierte zwar weiterhin, war jedoch vollkommen machtlos - jeglicher Regierungsgewalt enthoben.

Wenige Jahre später schottete Japan sich fast vollständig von der Außenwelt ab. Es wurde Japanern verboten die Inseln zu verlassen. Wer dem zuwider handelte haue mit empfindlichen Strafen zu rechnen. Ebenso war es Ausländern nicht gestattet einzureisen und alle in Japan lebenden Ausländer und Christen wurden einer konsequenten Verfolgung ausgesetzt9 um schädigende Einflüsse auf das soeben beruhigte Land zu vermeiden. Der rituelle Selbstmord, der es der Familie gestattet von der Unehre ihres Mitgliedes unberührt zu bleiben, wurde ebenfalls verboten.

So erzeugten die neuen Gesetze auch viele Probleme. Hatte im Leben eines Samurai bisher der kriegerische Teil einen hohen Stellenwert eingenommen, so wurde jetzt, wo die praktische Ausführung des Kampfes um Leben und Tod zu schwinden begann, dem religiösen und philosophischen Aspekt immer mehr Bedeutung beigemessen. Die Krieger begannen sich anderen Aufgabenbereichen zu widmen. Die meisten fügten sich dieser gesellschaftlichen Veränderung. Sie hatten genug mit ihren hohen staatlichen Ämtern zu tun. Andere widmeten sich mehr den Künsten, der Teezeremonie, Botanik, etc. oder führten ihre Kampftechniken zur Perfektion. Auch wenn diese durch das Fehlen der tödlichen Praxis einen etwas akademischen Touch erhielten.

Manch einer, der durch das Gesetz geschädigt wurde, zog sich in die Berge zurück und wurde Mönch oder versuchte aktiv in der Regierung wieder die alte Ordnung herzustellen. Auch in anderen Gesellschaftsschichten breitete sich allmählich Unzufriedenheit aus. Die Bauern verarmten aufgrund der immer stärker werdenden steuerlichen Belastung bei gleichzeitiger Geldentwertung, während der Teil der angepassten Samurai es sich in ihren Prachtburgen gut gehen ließ.

Diese Unstimmigkeiten führten Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, dass ein einziges Geschwader amerikanischer Schiffe ausreichte um von der nun beiderseitig bedrängten Shogun-Regierung die Öffnung Japans zum Ausland zu erzwingen. Der letzte Shogun übergab 1867 die Staatsmacht wieder dem Kaiser, der daraufhin die letzten Sonderrechte der Samurai aufhob. Der Stand der ehemals so mächtigen Kriegerkaste wurde aufgelöst. Diejenigen unter Ihnen, die den Wandel vorhergesehen hatten, hatten sich bereits hohe Stellungen in den neuen Wirtschaftszweigen gesichert. Die anderen verarmten hoffnungslos. Viele gaben ihren ganzen Stolz auf und verkauften, um zu überleben ihre wertvollen Samuraigegenstände zu Billigpreisen nach Übersee.

kano In diese Zeit des Umbruchs wurde Kano Jigoro geboren (1860). Der Sohn einer unbedeutenden Samurai Familie schrieb sich im Alter von siebzehn Jahren an der Kaiserlichen Universität ein. Kurz darauf begann er mit dem Studium des waffenlosen Kampfes verschiedener Stile. Seine Fortschritte waren beachtlich und mit zweiundzwanzig Jahren eröffnete er seine eigene Schule, den Kodokan. Das, was er dort unterrichtete, nannte er, im Gegensatz zu den herkömmlichen Schulen, die man als Jiu Jitsu (sanfte Kunst) bezeichnete, Jiu Do (sanfter Weg) um direkt und unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht nur um eine Kunst, etwas auszuüben, sondern vielmehr um einen Weg - eine Lebensauffassung - handeln sollte. Seiner Ziele waren zum einen die Harmonie von Körper und Geist und darauf aufbauend Harmonie zwischen allen Gesellschaften und gesellschaftlichen Schichten. Erreichen wollte er dies durch den besten Einsatz von Körper und Geist, sowie durch gegenseitige Hilfe und Zugeständnisse. Das waren seine zwei obersten Prinzipien. Sein ganzes Leben widmete er Verbreitung seines Ideals und hatte damit nicht nur in Japan große Erfolge.

Doch in der Zeit der Jahrhundertwende entwickelten sich relativ viele neue Schulen und unter ihnen gab es viele Scharlatane. So hatte es Kano nicht leicht. Vor allem die Intellektualität seiner Lehre und sein junges Alter riefen bei den Führern einiger alter Stile großen Widerstand hervor, da sie dieses mit fehlender Praktikabilität gleichsetzten. Ein anderer Grund mag sicherlich der Kampf um die Anerkennung als beste Kampfkunst gewesen sein. In den Turnieren zwischen den Schulen erzielten die Schüler Kanos jedoch so überzeugende Erfolge, dass sein Judo bald in das Lehrprogramm der Schulen, der Polizei und der Armee aufgenommen wurde.

Trotzdem hatte die Judo-Philosophie, die sich hervorragend auf die geistige Moral der Japaner anwenden lies, ihre Probleme mit dem "westlichen" Denken. Zumal die Europäer ihre ersten Jiu Jitsu- Bekanntschaften durch die Kampftechniken der japanischen Matrosen machten. Bald kamen die ersten offiziellen Lehrer. Sie hielten öffentliche Lehrgänge ab oder unterrichteten Kampftechniken an den Militärschulen. Kurz darauf öffneten die ersten einheimischen Schulen. In Deutschland wurde 1906 die erste Jiu Jitsu Schule von Erich Rahn gründete, dessen Lehre sich aber hauptsächlich im technischen Bereich abspielte.

Alfred Rhode war die nächste wichtige Persönlichkeit. Auch, oder vor allem was den Austausch mit den Jiu Jitsu-Systemen anderer Länder anbetraf, Rhode war darauf bedacht Kanos Art zu lehren. Also setzte er sich mit ihm in Verbindung und erfuhr auf diese Weise, was Jiu Do für Kano (der mittlerweile ein alter Mann von über siebzig Jahren geworden war) bedeutete. Wenige Zeit später wurde "Judo" in Deutschland der leitende Begriff für die "Kampfsportarten" die auf Niederwerfen basierten.

Das Ende des zweiten Weltkrieges brachte schließlich das Verbot der Kampfkunstschulen. Erst einige Jahre später begann, wie in anderen Bereichen, der mühselige Aufbau. Kano war 1938 auf einer Seereise verstorben. Seine Persönlichkeit beeinflusste den Weg des Judo nicht mehr länger.

Das Judo Europas passte sich an die Eigenarten des jeweiligen Landes an. Die Fremdländigkeit und die komplexen Regeln, mit deren Wertungssystem und Fachjapanisch der Laie nicht mitkommen konnte, hielten Judo im tiefen Schatten der traditionellen Sportarten gefangen. Die Bruce Lee-Welle mit ihrem verzerrten Kampfkunstbildnis und den begeisterten, Miau schreienden Fans trugen das ihrige dazu bei, um dem normalen Menschen zu signalisieren, dass es wohl besser sei, sich von solchen Dingen fernzuhalten. Die wenigen guten Lehrer, die aufklären konnten, taten ihr bestes, aber sie waren zu wenige.

Heute hat sich die Situation geändert. Nach langen Jahren aufopferungsvoller Aufbauarbeit von Menschen, die Judo zu ihrem Lebensinhalt machten (und natürlich der vielen anderen), sowie der Annäherung und Vermischung der Kulturen, findet Judo einen immer höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft. So ist Judo in Frankreich bereits zu einer der wichtigsten Sportarten geworden.

Aber auch in Deutschland lassen sich immer mehr Menschen von den fernöstlichen Kampfkünsten begeistern.

Und allen voran steht unser Judo, das mit seinem friedvollen Charakter im Prinzip für alle Altersklassen ohne große Risiken und Aufwand durchführbar ist.

Bereits im Kindesalter, in einer Spielform und mit geeigneten Lehrern ausgeführt, kann es wichtige Entwicklungen im körperlichen und sozialen Bereich beitragen. Auch im Jugendbereich ist Judo besonders geeignet, um der schon beinahe chronischen Bewegungslosigkeit in unserem Schulsystem entgegenzuwirken. Der natürliche Drang zum Raufen kann hier gefahrlos ausgeglichen werden. Judo fördert das Selbstbewusstsein und die Erkenntnis zur Verantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Handeln. Für den Erwachsenenbereich gilt ähnliches. Auch hier kann Judo einen hervorragenden Ausgleich zum beruflichen Alltag bieten. Da Judo mit Ausnahme des Wettkampfbereiches nicht kraftabhängig ist, ist es sogar möglich, bis in das hohe Alter hinein aktiv am Training teilzunehmen und sich fit zu halten.

Wir wünschen uns, möglichst viele Menschen dafür begeistern zu können, sich ein Leben lang mit Spaß sportlich zu betätigen - auch wenn es dann einmal nicht mehr Judo sein sollte.

© Copyright 1997 Mario Kaspari